Wir werden es gewusst haben
Was für ein Satz. Nähern wir uns ihm doch zunächst formal: Grammatikalisch beschreibt er das vollendete Futur – das Futur II . Es geht um eine Zeitspanne, die noch nicht angefangen hat, aber irgendwann auch zu Ende sein wird. Es geht um eine begrenzte Zukunft. Die Frage stellt sich: Kann denn die Zukunft je vollendet, je abgeschlossen sein? Ist sie nicht immer unendlich zu denken? Gegen die eigene Endlichkeit. Das ist wohl die erste gedankliche Hürde, die zu nehmen ist. Wir werden es gewusst haben Hinterher ist man immer klüger, das ist doch klar, sagen die einen, es kommt halt so, wie es kommen muss. Schicksal eben, da kann man nichts machen. Nein, so einfach ist das nicht, meinen die anderen. Wir können doch nicht warten, bis sich die Zukunft vollendet hat und dann schauen, ob alles gerade noch einmal gut gegangen ist. Wieder einmal. Unser heutiges Handeln muss vielmehr so sein, dass es (auch) in der vollendeten Zukunft noch einen Sinn erkennen lässt – für uns und für die Gesellschaft, in der wir leben. Und das ist oft mehr als eine allein gedankliche Hürde. Wir werden es gewusst haben Ist es gut, heute schon Ideen und Pläne für eine mögliche Zukunft zu entwerfen, damit wir es morgen und auch übermorgen, wenn die nächste Zukunft vollendet ist und eine andere beginnt, gewusst haben werden? In solchen Gedankenspielen kann man sich leicht verlieren. Eines ist jedoch sicher: Die Zukunft passiert nicht einfach so, sie passiert mit dem, was wir denken, was wir tun und was wir verantworten – im Großen, aber vielmehr noch im Kleinen, im Alltäglichen. Heutiges Handeln wird in Zukunft daran gemessen, ob es heutigem Wissen gemäß war. Wir werden uns in Zukunft auch selber daran messen und daran messen lassen müssen. Haben wir es denn nicht alle gewusst? Wir werden es gewusst haben Zu keiner Zeit haben Menschen mehr gewusst. Nie waren sie derart umfassend informiert. Nie war so vielen ein so leichter Zugang zu Quellen des Wissens möglich. Es ist zu wünschen, dass diese Freiheit weiter wächst – bei uns und vor allem auch global gesehen. Doch die Fülle fundierten Wissens, die uns umgibt, öffnet nicht nur Perspektiven, sie lähmt uns zugleich. So leben wir in einer Phase der Stagnation. Keine der großen Menschheitsaufgaben wurde nachhaltig gelöst. Wir finden uns mit immensen Bedrohungspotentialen ab, immer in tiefem Vertrauen, dass Katastrophen ja wo anders stattfinden und ganz sicher nicht ausgerechnet uns oder unsere Kinder treffen werden. Aber übermorgen ist morgen schon gestern. Die Vergangenheit beginnt bald. Und: Wir haben es nicht gewusst kann übermorgen nicht unser Fazit sein. Wir werden es gewusst haben: Das ist ein stiller Vorwurf, der uns auch Angst machen kann. Wir werden es gewusst haben Das Theater lebt vom Unvorhersehbaren. Erst wenn der Vorhang fällt, werden Sie und werden wir gewusst haben, ob es eine gelungene Verabredung war. Unsere Spielzeitvorschau zeigt Themen und Titel, von denen wir heute glauben, dass sie für morgen die richtigen sind. So hoffen wir, übermorgen gemeinsam mit Ihnen sagen zu können: Es waren die zeitgemäßen, die wohltuend unzeitgemäßen, die wirklich unterhaltsamen, kurzum die richtigen Geschichten. Theatergeschichten regen an, irritieren zuweilen, geben Einblicke in fremde Denk- und Lebensweisen, machen uns zu Voyeuren des Handelns anderer. Und sie hinterlassen Spuren in unserem Denken und im Gestalten unserer persönlichen Zukunft. Darüber möchten wir uns mit Ihnen in dieser Spielzeit austauschen.
Ihre Cathérine Miville | Intendantin