Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters im Stadttheater als Hommage an Wiener Fin de siècle / Mangelnde Balance hat Auswirkungen auf den Klang
Mit seinem Sinfoniekonzert am Dienstagabend trat das Philharmonische Orchester Gießen in der Königsklasse der monumentalen deutsch-österreichischen Sinfonik an. Bis zum Pokal ist es aber noch ein weiter Weg.
Unter Leitung des Detmolder Dirigenten Florian Ludwig gestaltete das durch zahlreiche zusätzliche Musiker auf eine stattliche Größe erweiterte Ensemble eine Hommage an das Wiener Fin de siècle. Das Schwergewicht in jeder Hinsicht bildete Gustav Mahlers fünfte Sinfonie, uraufgeführt 1904 in Köln. Dieser schlechthin weltanschaulichen Bekenntnismusik gewaltigen Ausmaßes stellte die Programmfolge vor der Pause zwei Werke zur Seite, die auf reizvolle Weise eine Rahmung bildeten. Der berühmte „Wienerwald“-Konzertwalzer von Johann Strauß (1868) legte eine wichtige Wurzel für Elemente des Tanzes, vor allem des volkstümlichen Ländlers und des bürgerlichen Walzers, in der Sinfonik Mahlers frei. Anton von Weberns frühe sinfonische Dichtung „Im Sommerwind“ aus dem Jahr 1904 zeigte die unmittelbare Mahler-Rezeption. Diese „Idylle für großes Orchester“ nach einem Gedicht von Bruno Wille arbeitet – etwas eklektisch – mit einem ganzen Arsenal von musikalischen Gesten, die neben Mahler auch klar auf Richard Strauss oder Hans Pfitzner verweisen.
Warum konnte Mahlers Sinfonie trotz vieler guter Einzelleistungen der Musiker nicht wirklich überzeugen? Fangen wir von hinten an – denn dieses Stück ist von seinem Ende her gedacht, einem furios-strahlenden, sich dann in Tempo und Kraft schier überschlagenden Jubelchoral, einer quasi-religiösen Apotheose als Überwindung von Tod und Leid. So umstritten die Glaubwürdigkeit dieses Jubels ist, seine Wirkung verfehlt er nicht, er ist eine sichere Bank nach den außerordentlich vielschichtigen Prozessen, die ihm vorausgehen, nachdem der Choral bereits im ersten Satz angeklungen ist, um aber sofort wieder in Zweifel, Klage und Furcht zu versiegen. Den Schlussjubel breit und prächtig zu zelebrieren, das gelang Ludwig denn auch, der Beifall war ihm sicher.
Wie mühsam der Weg bis dorthin ist, hörte man dem Orchester allerdings immer wieder an. Dabei hat Ludwig vieles richtig gemacht: Die Temporelationen waren gut gewählt, insbesondere etwa bei den wichtigen Bezügen des zweiten auf den einleitenden ersten Satz, den düster-zynischen Trauermarsch, aber auch in den gewaltigen Steigerungen und ihren Mahler-typischen Zusammenbrüchen, oder nicht zuletzt im zentralen dritten Satz, der sonst oft zu rasch genommen wird. Das berühmte Adagietto, der vierte Satz, blieb mit einer Länge von etwa zehn Minuten auf der etwas belebteren Seite von „sehr langsam“, was der Intention eines Liedes ohne Worte sehr wohltuend entgegenkam.
Und trotzdem: Vielfach war das Ergebnis unbefriedigend. Phrasierungen wurden von den Musikern nicht gemeinsam empfunden; die sprachnahen und frei zu gestaltenden Abfederungen des Metrums, wie sie Mahler fordert, wirkten immer wieder einstudiert und gewollt. Anders ausgedrückt: Das Orchester musizierte oft einfach nicht zusammen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf den Klang.
Ohnehin war die Balance zwischen den Instrumentengruppen unbefriedigend: Wo das Blech knallend auffährt, unterstützt vom leicht poltrigen Schlagwerk, sind die Streicher kaum noch zu hören. Das ist nicht nur eine Frage der Besetzung, die mit zehn ersten und zehn zweiten Geigen schlicht unzureichend war. Aber gerade die auffallende Klangunschönheit der hohen Streicher hat auch mit der Inhomogenität innerhalb der Gruppe zu tun – von uneinheitlichen Bogenbewegungen über Vibrato bis hin zum Pizzicato. Mahler wusste, warum er Anmerkungen hierzu sogar in die gedruckte Partitur eintragen ließ. Leicht gesagt: Man muss sich nur dran halten.
Karsten Mackensen, 31.05.2019, Gießener Anzeiger