Selbstbewusst handelt der Mensch in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts. Grenzenlos scheint die Freiheit, Dinge selbst zu tun, Informationen selbst zu beschaff en, den Blick auf die Welt selbst zu steuern. Scheinbar autark eilen wir durch die globalisierte Welt – flitzen
durch die digitalen Weiten, bedienen uns selbst mit Informationen, tauschen uns aus über Selbsterfahrungen – selbstverständlich selbstbestimmt.
Als Selbstdarsteller, zuweilen selbstgefällig, präsentiert sich, wer dazugehören will, in der Netzwelt. Wir sammeln Freunde und Follower, teilen und liken und agieren im Rahmen von 140 Zeichen: selbstbeschränkend, aber über alle Schranken hinweg.
Die Bereitschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, ist groß – von der Selbst(-er)findung über die Selbstentfaltung bis zur Selbstvermarktung. Der Grat zwischen Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung ist ein denkbar schmaler. Was oft fehlt, ist der Selbstschutz. Und zu fragen bleibt, ob die Bereitschaft zur Selbständigkeit wirklich eine solche ist oder nicht eher eine erzwungene Selbstbehauptung.
Ist auch die Rückbesinnung auf sich selbst, auf selbstbestimmtes Handeln, auf Selbstverantwortung für das eigene Leben kein neuer Gedanke – die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit beschäftigt uns seit der Aufklärung – so ergeben sich in einer globalisierten Welt diesbezüglich jedoch neue Fragen. Fragen, die sich in Situationen der Fremdheit als Folgen freiwilliger oder erzwungener Mobilität zusätzlich aufdrängen.
Selbstkritisch nehmen wir Tendenzen des Rückzugs auf uns selbst wahr – fügen uns oder rebellieren, profitieren, arbeiten dagegen an oder entwerfen Gegenmodelle.
Mit Energie wehren wir uns gegen Gleichgültigkeit und Abschottung. Die jüngste Vergangenheit hat uns aber auch mehrfach und eindrücklich gezeigt, welch virale Kraft das Selbst haben kann – immer dann, wenn es mit Selbstvertrauen ausgestattet für gesellschaftliche oder politische Ziele einsteht, etwas anstößt und sich mit anderen Selbsts verbindet, entstehen
Kräfte der Veränderung, der Weiterentwicklung.
Im Theater ist das Selbst kein Selbstläufer. Aus immer anderen Blickwinkeln betrachten wir die Welt in ihren kleinen und großen Zusammenhängen, spüren Widersprüche und Ungereimtheiten menschlichen Handelns und menschlicher Beziehungen auf, kreieren Figuren, lassen sie um sich selbst kreisen, setzen Einzelne in Verbindung zur Gesellschaft, zeigen Fremde unter Fremden. Goethes Iphigenie ist sich ihrer selbst nicht mehr sicher. In 1984 von George Orwell steht Selbstsein unter Strafe. Und in Büchners Leonce und Lena stehen zwei Liebende sich selbst im Wege.
Kommen Sie auch in der neuen Spielzeit in Ihr Stadttheater: auf jeden Fall selbst, sehr gerne auch mit anderen. Aufführungen aller Sparten warten auf Ihre neugierigen, manchmal vielleicht auch selbstvergessenen Blicke. Nutzen Sie die vielfältigen Möglichkeiten, für ein paar Stunden von sich selbst abzusehen, über sich selbst hinauszudenken, vielleicht auch
einmal über sich selbst zu lachen. Und das alles zusammen mit vielen anderen Selbsts, die nicht global, sondern ganz lokal zur selben Zeit am selben Ort sind. In Ihrem Theater.
Ich freue mich auf Sie
Ihre Cathérine Miville | Intendantin