wies Leben nur anders
Theater ist wie das Leben. Klar, mögen Sie denken. Ist Theater doch fester Bestandteil der Stadt. Es unterhält Sie und es greift Ihre Fragen, Wünsche, auch Ihre Ängste auf: Fragen nach unserem Umgang mit dem rasanten Tempo gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen, das uns vorantreibt; Fragen zum Umgang miteinander oder auch Fragen nach dem Entfaltungsraum des Individuums in einer gleichberechtigten Gesellschaft mit gemeinsamen Zielen.
Doch Theater ist kein Abbild des Lebens – es ist Brennglas oder auch Weitwinkelobjektiv; es ist immer Übersetzung, resultierend aus dem Nachdenken über das Leben. Theater erzählt Geschichten, lässt Emotionen, Bilder und Klänge entstehen; Theater schafft Freiräume für individuelle Assoziationen. Aus dem Alltag gegriffen, vor historischem Hintergrund oder aus gesellschaftspolitischen Zusammenhängen entwickelt, vermögen die Geschichten einen unmittelbaren, konkreten Bezug zum eigenen Leben zu schaffen, aber auch Blickwinkel zu ändern und Horizonte zu öffnen. Sie entführen in fremde Sphären, verzaubern, schockieren, irritieren – und: Sie können wach machen.
Theater ist so unmittelbar wie das Leben selbst, das sich auch immer wieder neu erfindet in all seinen Kontinuitäten und Brüchen. Und so bietet jede Arbeit und jede Spielzeit Raum, Theater und die Arbeitsprozesse partiell neu zu erfinden: Vor zwei Jahren wagten wir im musikalischen Bereich einen Neubeginn, unser Tanztheater betreibt seit Jahren mit größter Lust stete Innovation und auch das Schauspiel arbeitet eng am Puls der Zeit. Wir freuen uns, dass Sie, unser Publikum, uns seit Jahren auf diesem Weg begleiten und mit uns immer wieder Neuland betreten.
Gleich zu Beginn der Spielzeit 2014/15 eröffnen wir unsere neue Studiobühne taT am Berliner Platz. Wir sind wirklich sehr, sehr dankbar, dass uns die Stadt Gießen – tatkräftig unterstützt durch den Betreiber des neuen Kinocenters – diesen über viele Jahre gehegten Traum erfüllt hat. In Zeiten, in denen überall Kulturinstitutionen geschlossen werden, hat die Universitätsstadt Gießen es geschafft, in ihrem Herzen einen Kultur-Raum mit Konzertsaal, Kunsthalle, Kino und Theater zu realisieren. Das ist schlicht und einfach großartig! Und unsere Vorfreude ist natürlich entsprechend hoch. Denn die taT-studiobühne bietet – neben sehr deutlich verbesserten Arbeitsbedingungen – vielfältige Möglichkeiten der Raumbespielung und damit für Sie und uns ganz neue Perspektiven.
wies Theater nur anders | Das ist seit vielen Jahren ein Motto der freien Theaterszene. Nicht die Spiel- und Arbeitsformen der Stadttheater sollen reproduziert, sondern neue Produktionsprozesse initiiert werden, fernab von Ensemble und Repertoire, aber keineswegs mit geringeren Ansprüchen, weniger Phantasie und Könnerschaft. Viel wird aktuell über Möglichkeiten der Zusammenarbeit nachgedacht, Vor- und Nachteile von Kooperationen werden analysiert, Chancen und Risiken meist in Projektarbeiten erprobt. Auch in Gießen haben wir in allen Sparten vielfältige, nicht selten viel versprechende Erfahrungen gesammelt. Aber nun wollen wir die unterschiedlichen Arbeitsweisen erstmals innerhalb der Struktur unseres Stadttheaters zusammenführen: Das neue Schauspiel-Leitungsteam wird zunächst eine Produktion im Großen Haus in einem alternativen Arbeitsprozess entwickeln lassen und lädt dazu – wie auch zu den flankierenden Formaten im taT – KünstlerInnen der Freien Szene ein. Die Nähe und die über Jahre gewachsenen Arbeitskontakte zum Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Gießener Justus-Liebig-Universität prädestinieren uns, neue Formen der Zusammenarbeit auszuprobieren. Wir sind froh über die gewachsenen Strukturen und die hohe künstlerische Qualität unseres Stadttheaters. Doch gleichzeitig sind wir ein bewegliches Haus, eines, das immer auch ein bisschen anders kann. Und genau dies möchten wir verstärkt auch in der Zukunft sein: ein agiler und attraktiver Spiel- und Produktionsort für die unterschiedlichsten Theaterformen.
Ich freue mich auf eine Spielzeit voller Neuanfänge, voller Leben. Ich freue mich auf Theater, das vielleicht auch einmal anders ist, als Sie und wir es erwarten.
Ihre Cathérine Miville | Intendantin